Kalkulierte Störung im Rechtssystem

„Kirchenasyl“ in Deutschland und in „Frieden und Hoffnung“

vom

Claudia Nikol – Beauftragte beider Dresdner Ev.-Luth. Kirchenbezirke für Integration

„Hallo, Hilfe, ich beantrage Asyl bei der Kirche.“ Diese Betreffzeile einer E-Mail ist nicht erdacht, sondern sie erreichte Ende 2023 als eine von knapp 200 Bitten um Kirchenasyl im gesamten Jahr Albrecht Engelmann, den Ausländerbeauftragten der Landeskirche, und infolgedessen dann auch mich, die Integrationsbeauftragte auf Dresdner Kirchenbezirksebene.

Eine beachtliche Zahl. Jeder Fall ein Schicksal. Die aktuelle politische Diskussion um Einwanderung und um Asyl als Menschenrecht in Deutschland (Artikel 16a Grundgesetz) und Europa wird jedoch dominiert von immer neuen Forderungen zur Beschränkung dieser Grundrechte. Am 15. November 2024 beantragte die AfD im Bundestag die „Beendigung der Vereinbarung zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und den Kirchenvertretern zum Kirchenasyl zwecks Beseitigung möglicher Abschiebungshindernisse“. Unabhängig von diesem erwartbaren Vorstoß aber zeugen auch mindestens sieben geräumte Kirchenasyle im Jahr 2024, so viele wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik, von der härteren Gangart auf allen Ebenen des Asylrechts. Die gute Nachricht kommt dabei diesmal aus Sachsen: Hier wurde seit 1990 noch nie ein Kirchenasyl geräumt – Staat und Kirche halten sich wechselseitig an die Vereinbarungen.

Worum geht es in dieser Vereinbarung und warum akzeptiert der Staat überhaupt eine Sonderrolle der Kirche als kalkulierte Störung im Rechtssystem? Die Worte sind bewusst gewählt: Kirchenasyl stört, es greift ein in ein aus Sicht des Staates abgeschlossenes und für die Antragstellenden negativ ausgegangenes Asylverfahren. Mit dem Ablehnungs-Bescheid vom BAMF müssten die Abgelehnten mit Frist Deutschland verlassen. Und sie widersetzen sich diesem Bescheid, wenn sie in Deutschland bleiben und die Kirche um „Asyl“ bitten. Mit der Formulierung „Kirchenasyl“ geht nun der landläufige Irrtum einher, es handele sich dabei um ein gesetzlich vorgesehenes Verfahren. Genau das Gegenteil ist der Fall: Kein Mensch kann „Asyl bei der Kirche beantragen“. Und die Kirche als Institution und ihre Mitglieder sind dem deutschen Staat und seinen Gesetzen genauso verpflichtet und untergeordnet wie alle anderen. Trotzdem erhebt die Kirche im Fall des Kirchenasyls, oder besser „des Asyls mit der Kirche“, ihre Stimme gegen die Verfügung des zuständigen Bundesamts.

Begehen Kirchen damit Rechtsbruch? Leisten sie zivilen Ungehorsam? Hundertprozentig einig ist man sich da auch nach 41 Jahren Kirchenasylpraxis noch immer nicht. Ich allerdings schließe mich der Argumentation des früheren Bundesjustiz- und Innenministers sowie ehemaligen EKD-Ratsvorsitzenden Jürgen Schmude an: So lange dem Staat bekannt ist, wo sich die Geflüchteten aufhalten, und das ist anerkannte Grundvoraussetzung für ein Kirchenasyl, stehen dem Staat jede Zugriffsmöglichkeiten zur Verfügung; Kirchenasyl ist somit keine Rechtsverletzung.

Denn warum sollten ausgerechnet Kirchgemeinden Geflüchtete in Not aus humanitären Gründen nicht aufnehmen und ihnen beistehen? Es gibt eine christliche, und damit eine kirchliche Beistandspflicht. Christen und Kirchgemeinden sollten sehr selbstbewusst Zweifel an der rechtmäßigen Entscheidung staatlicher Behörden immer dann äußern, begründen und in die konstruktive Auseinandersetzung gehen, wenn im Einzelfall dem betroffenen Menschen Verfolgung, Folter oder Tod drohen.

Im März des vergangenen Jahres hat sich der Kirchenvorstand des Kirchspiels Dresden West auf Hinweis eines Gemeindeglieds und nach eingehender Beratung und Prüfung des Falls entschieden, einem jungen Kurden Zuflucht in der Gemeinde „Frieden und Hoffnung“ und Unterstützung in seinem Asylverfahren zu geben. Das sogenannte „stille Kirchenasyl“, das heißt ohne Einbeziehung einer größeren Öffentlichkeit in Gemeinde und Gesellschaft, wurde im Oktober beendet und daraufhin in der Härtefallkommission Sachsens akzeptiert. Leider kam es bis Redaktionsschluss noch nicht, wie erhofft, zu einer Einigung mit der zuständigen Ausländerbehörde. Seit einem Jahr begleitet „Frieden und Hoffnung“ den jungen Mann in Not. Das war und ist für alle Beteiligten mitunter ein physischer, vor allem aber psychischer Kraftakt. Andererseits: Dieser Blick auf den Menschen und eine sehr konkrete Nothilfe helfen auch uns selbst, gegen Gleichgültigkeit und Ohnmachtsgefühle anzugehen, denen wir uns oft ausgeliefert fühlen angesichts des Leids unserer Mitmenschen in der Welt.

Claudia Nikol
Beauftragte beider Dresdner Ev.-Luth. Kirchenbezirke für Integration