Was hält uns am Leben?
vom , verfasst von Bettina Klose

Das Internet bietet viele Synonyme für das Wort lebendig: munter, vital, rege, lebhaft, wach, aktiv, leistungsfähig, kraftvoll, schöpferisch … Über die meisten sinnverwandten Worte lese ich hinweg. Verdient nur das Wache, Aktive, Vitale das Prädikat lebendig? Mir kommt ein Vers aus der Offenbarung des Johannes in den Sinn. Der Gemeinde in Sardes wird gesagt: Du hast den Ruf, eine lebendige Gemeinde zu sein, aber in Wirklichkeit bist du tot (Offb. 3,1). Das Leben schien in der Gemeinde zu pulsieren, da passierte etwas. Doch in den Augen Gottes war sie tot. Was bedeutet lebendig sein? Ist es die Frage nach der Lebensqualität oder nach dem Cantus firmus – der Grundmelodie, die unter allen anderen Tönen liegt? Bei meiner Internetsuche stolperte ich über Wörter wie nicht tot, atmend, am Leben orientiert, einprägsam, nicht einsam. Spuren, die mich weiterführen.
In meiner ersten Gemeinde wohnte gegenüber dem Pfarrhaus, in dem ich wohnte, die alte Kantorin der Gemeinde. Drei Monate nach meinem Dienstbeginn feierte sie ihren 80. Geburtstag. Trotz ihres Alters war sie im Un-Ruhestand: Sie vertrat die Kantorin der Gemeinde im Gottesdienst und bei Chorproben, spielte regelmäßig zu Gottesdiensten im Pflegeheim der Diakonie und betreute den Seniorenkreis. Wenn ich am späten Abend meine Schreibtischlampe ausknipste, ging mein Blick regelmäßig aus dem Fenster hinüber zu ihr. Brannte bei ihr noch Licht? Es waren vielleicht fünf oder sechs Jahre, in denen wir so beieinander wohnten und gemeinsam unseren Dienst versahen. Dann ließen ihre Kräfte nach. Sie verließ immer seltener ihre Wohnung. Ich erinnere mich an einen Besuch bei ihr. Sie lag im Pflegebett, ihr Gesicht war schmal geworden und in mir war der Gedanke: Sie werde ich in diesem Jahr beerdigen. Ihr Neffe konnte sie überreden, ins Pflegeheim zu ziehen. Und hier erwachten in ihr neue Lebensgeister. Sie gewann an Kraft, spielte wieder die Gottesdienste im Pflegeheim und die Pflegedienstleiterin verriet mir, dass morgens vor dem Frühstück auf Station jetzt die Herrnhuter Losung gelesen wurde. Ihre Schlagfertigkeit und ihr trockener Humor kehrten zurück. Die Gemeinschaft im Heim tat ihr gut. Es war die Einsamkeit, die sie krank gemacht hatte. Was lässt uns lebendig sein? Oder anders gefragt: Was hält uns am Leben? Was lässt uns auch in schwierigen Zeiten lebendig sein?
Von dem jüdischen Theologen Martin Buber ist der viel zitierte Satz bekannt: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“. Er stammt aus seiner Schrift „Ich und Du“, entstanden vor ca. 100 Jahren. In dieser Schrift stellt er dem modernen individualistischen Menschenbild das hebräische Menschenbild gegenüber. Für Buber ist der Mensch in seinem tiefsten Wesen ein Mensch in Beziehung. Der Einzelne braucht die Gemeinschaft nicht nur funktional für sich, er ist von Gott her als Beziehungswesen geschaffen. Für Buber gibt es deshalb kein Ich an sich, sondern nur das Ich in Beziehung: Ich und Du. Das Du nicht als Objekt, sondern als Person gedacht. Du – Gott, Du – Mitmensch, Du – Ich. Wo sich Person und Person begegnen, vollzieht sich Leben. Anders gesagt: In der Begegnung werden Menschen lebendig. Hier haben sie ein Gegenüber, werden wahrgenommen, bekommen Hilfe und Wärme (manchmal auch durch Reibung). Für den christlichen Glauben ist das Gegenüber und ist die Gemeinschaft sogar existenziell, denn christlicher Glaube ist zwar persönlich, aber nicht individualistisch. Christus stellt uns immer in eine Gemeinschaft, er bringt uns in Beziehung.
Als Gemeinden tun wir gut daran, dieser Spur des Lebens zu folgen – indem wir Begegnungsräume schaffen, den Besuchsdienst stärken, Menschen in der Not nicht allein lassen, und anderes. Dafür müssen auch Strukturen angepasst werden, damit sie dem Leben dienen. Als Gemeinden müssen wir atmen können, um lebendig zu sein.
Der Monatsspruch für Februar nimmt uns in diese Lebensbewegung hinein: Du tust mir kund den Weg zum Leben (Ps. 16,11a). Der Psalm wird König David zugeschrieben. Die biblischen Texte erzählen, wie oft sein Leben bedroht war. Doch er bezeugt: Gott, Du tust mir kund den Weg zum Leben. Du überlässt mich nicht dem Tod mit seinen vielen Gesichtern. Deine Wegbegleitung, deine Nähe führt mich ins Leben. Weil David „den Herrn allezeit vor Augen hat“ (V8), freut sich sein Herz, wird seine Seele fröhlich und sein Körper geborgen sein (V9). Mit Gott geht der ganze Mensch den Weg ins Leben.
Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Passions- und Osterzeit.
Bettina Klose
Pfarrerin im Kirchspiel Dresden West