Wenn die Liebe heimatlos geworden ist
24. November 2024
vom
Was für ein Jahr. Die vergangenen Monate scheinen wie unter einer Staubschicht zu liegen, die Konturen verwischt, keine Erinnerung ist richtig klar. Da ist nur dieses Gefühl. Häufig schwer, der Körper funktioniert mehr automatisch als wirklich selbst gesteuert. Seit dem Tod der Tochter, des Mannes, der Oma oder des Bruders fliegt das Leben nur halb bewusst vorbei. Manchmal kommt ein Lachen, ein kurzer Moment des Glücks, aber häufig gleich danach eine diffuse Mischung aus Unbehagen, schlechtem Gewissen, Unsicherheit. Darf ich jetzt schon wieder fröhlich sein?
Die ersten Tage und Wochen war da der Schock und der ganze Aufwand mit der Organisation. Erst später kamen die Gefühle so richtig nah ran. Am Anfang haben auch noch alle gefragt, aber nach zwei, drei Monaten war für die anderen das Leben wieder normal. Nur ab und zu kam noch die vorsichtige Frage, wie es denn geht.
Es ist alles neu, auch das Alte und auch ich selbst. Ich bin heimatlos geworden mit meiner Liebe, seit der Mensch, den ich liebte, nicht mehr da ist. Ich kannte mich so noch nicht: Traurig, allein, unsicher, was ich mit dem leeren Stuhl, den Anziehsachen im Schrank anfangen sollte. So geht es, Schritt für Schritt durch das Jahr hindurch. Jeder Tag, der geschafft ist – ob mit Tränen oder mit Lachen – bringt ein neues Stück Normalität.
So geht es Anna, so geht es Klaus, so geht es Cindy und all den anderen, die einen Menschen verloren haben.
Früher hatten die Menschen ein Jahr lang schwarze Kleidung an. Es wurden keine Feste gefeiert und die Trauernden wurden nicht eingeladen. Das war für manche gut, weil sie sich nicht erklären mussten. Weil sie auch nach sieben Monaten noch traurig sein durften. Aber für andere war es schwer, weil ihre Trauer anders funktionierte. Weil Ablenkung auch guttun kann. Weil der neue Alltag auch mit neuem Lachen und vielleicht neuen Menschen zu tun haben kann. Heute gibt es kaum noch Formen, die helfen oder behindern. Das schafft Freiheit und fordert heraus. Jeder darf und muss seinen eigenen Weg finden und ihn selbst erklären. Einmal im Jahr werden all die unterschiedlichen Wege wieder zusammengefasst. Einmal im Jahr, am Toten- oder Ewigkeitssonntag laden wir in der Kirche alle Menschen ein, noch einmal an ihre Verstorbenen zu denken. Es ist unsere christliche Überzeugung, dass das Leben mit dem Tod nicht endet und dass bei Gott keiner vergessen wird. Jeder Name wird noch einmal genannt. Jeder kann den geliebten Menschen noch einmal in Erinnerung rufen. Das gilt für alle, auch für die, die nicht zur Kirche gehören. Auch ihre Namen werden z. B. in einer Andacht auf dem Bergfriedhof verlesen. Für jeden wird eine Kerze angezündet, es ist Raum für Gefühle, ein neues Stück Abschied und die Erinnerung, die immer bleibt. Die Lücke, die ein geliebter Mensch mit seinem Tod hinterlässt, kann nichts und niemand füllen. Aber sie kann mit der Zeit eingebaut werden in ein neues Leben und dabei können diese Rituale helfen. Wir laden dazu am 24. November herzlich ein, auf dem Bergfriedhof Cossebaude oder auch in den anderen Gemeinden unseres Kirchspiels.
Pfarrerin Margarete Aichinger