Zwischen Trend und individueller Spiritualität
Pilgern auf Jakobswegen in Deutschland
vom , verfasst von Jens Beyer
Im Grunde ist es ganz einfach: Man packt seinen Rucksack mit dem Nötigsten, zieht sich Wanderschuhe an und startet vor der Haustür. Ob man dann schon ein „richtiger Pilger“ ist, diese Frage stellt sich eigentlich nicht. Denn ob nun mit offiziellem Pilgerausweis und Muschel am Rucksack oder mit Hightech-Funktionswäsche, ob aus religiöser Motivation oder nicht – das alles ist gar nicht so wichtig. Man läuft los und geht einen Weg.
Sicherlich ist ein Pilgerweg anders als ein Langstreckenwanderweg. Das liegt vor allem an den Menschen drumherum. Pro Tag schafft man mit wenig Kondition etwa 15 bis 20 Kilometer. Das dauert seine Zeit. Währenddessen hat man Gelegenheit, die Landschaft richtig wahrzunehmen, über dies und jenes nachzudenken, seinen Atem zu spüren, Lieder vor sich hin zu summen oder still zu sein. Ob allein oder mit anderen Pilgern – Leute trifft man, aber nicht viele. Man hat jedenfalls viel Anlass, es eine Zeit lang mit sich selbst auszuhalten. Pausen tun gut, und das Ankommen bei herzlichen Gastgebern ist sehr schön – selbst wenn die Verpflegung karg ist und nur ein Matratzenlager zur Verfügung steht. Man lernt, die kleinen Dinge anders wahrzunehmen. Dankbar lässt man die Zeit verstreichen. Am nächsten Tag geht es schon weiter...
Seit über 20 Jahren gibt es den Ökumenischen Pilgerweg in Sachsen, und mittlerweile hat sich ein echter Pilgertrend entwickelt – nicht zuletzt durch prominente Pilger wie Hape Kerkeling. Vermutlich kennen viele das Buch „Ich bin dann mal weg“ (2009) oder auch den Kinofilm dazu. Mittlerweile wurden auch die alten Wege in Richtung Santiago de Compostela in Spanien wiederbelebt, und so zieht sich ein regelrechtes Netz durch Europa. Die Via Regia, die „Königsstraße“, beginnt in Görlitz und endet in Vacha in Thüringen. Das sind 460 Kilometer. Bis nach Santiago sind es dann noch 2.500 bis 3.000 Kilometer, je nach Route. Das ist natürlich viel zu weit, wenngleich das im Mittelalter so gehandhabt wurde.
Für diejenigen, die lediglich ihren Urlaub oder nur ein paar Tage Zeit haben, bietet sich das Pilgern in Etappen an. Beim nächsten Mal geht man dort weiter, wo man das letzte Mal aufgehört hat. Wer darauf Wert legt, sammelt unterwegs Stempel von Herbergen, Kirchen und Klöstern. Es geht aber nicht um Leistung oder Kilometer, sondern um das Lebensgefühl: Pilgern bedeutet, fremd zu sein und auf Gastfreundlichkeit angewiesen zu sein. Da kann man sehr beschenkt werden, vor allem, wenn man unverhofft Gutes erfährt oder schöne Orte unterwegs entdeckt: Ein verstecktes Gasthaus am Wegesrand, eine hübsche alte Dorfkirche, ein kleines Wäldchen oder eine gemütliche Herberge...
Und dann wäre da noch die Sache mit dem Glauben: Ursprünglich als Bußübung gedacht, steht das Pilgern heute auch für eine eigene Form der Spiritualität. Zwischen Unterwegssein und Reisesegen kommt man in Kontakt mit den Wurzeln unserer mitteleuropäischen Frömmigkeit. Wer also Spirituelles jenseits von kirchlicher Organisation sucht, findet am Wegesrand viel Inspiration. In den größeren Orten gibt es alte Spuren christlicher Wallfahrten, Jakobuskirchen und Klöster entlang der historischen Wegverläufe. Dahinter stecken Geschichten, die davon erzählen, wie unsere Vorfahren ihren Glauben gelebt haben, welche Hoffnungen und Ängste sie Gott hinhielten und wie sie Trost aus dem Glauben schöpften. Wie gesagt, Pilgern hat etwas von einem spirituellen Lebensgefühl – oder wie es im Neuen Testament heißt: „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebräer 13,14) Es geht also darum, gewohnte Sicherheiten zu verlassen und sich der Welt auszusetzen, jenseits der Komfortzone. Vielleicht steckt darin etwas wie eine Gottesbegegnung?
Ob man so auf direktem Weg zu sich selbst findet, kann ich nicht beantworten. Umwege gehören bekanntlich zum Leben dazu und sind auch beim Pilgern manchmal nicht zu vermeiden. „Guten Weg“ oder „Buen Camino“, wie es auf Spanisch heißt!